CROSSINGS

Im Rahmen eines Gastbeitrages stelle ich mit der marokkanisch-französischen Fotografin Leila Alaoui eine Künstlerin vor, deren Arbeiten einen starken Aktualitätsbezug und eine enorme sensitive Präsenz haben, eine Fotokünstlerin die man kennen sollte, man aber wahrscheinlich nicht in Marokko vermuten würde.

Ihre Foto- und Videoarbeiten werden aktuell ausgestellt:

Carrefour / Meeting Point
The Marrakech Biennale and beyond
17.7. – 4.10.2015
ifa Gallery Berlin, ifa (Institute for Foreign Cultural Relations)
Linienstrasse 139/140
10115 Berlin

BIENNALE DES PHOTOGRAPHES DU MONDE ARABE
Maison Européenne de la Photographie
10.11.2015 – 17.01.2016
Paris – Frankreich

TRACES OF THE FUTURE
The Marrakech Museum for Photography and Visual Arts
01.05. – 30.09.2015
Marrakech – Marokko

www.mmpva.org

EXPO MILANO 2015
01.05. – 31.10.2015
Mailand – Italien

Leila Alaoui – © Augustin LeGall 2015

Thomas Gauck: Leila, du wurdest 1982 in Paris geboren, deine Eltern sind zum einen Teil französisch und zum anderen marokkanisch. Du pendelst zwischen Paris, Marrakech und Beirut. Soweit ich weiß, hast du in New York Fotografie und Sozialwissenschaften studiert. Kannst du uns bitte etwas mehr aus deiner Arbeit als Fotografin erzählen?

Leila Alaoui: Meine persönlichen Erfahrungen aus unterschiedlichen kulturellen und geografischen Umgebungen haben meine kritische und praktische Arbeitsweise umfassend geformt. Während des Studiums und meiner Zusammenarbeit mit Fotografen und Filmemachern in New York hat sich meine tiefe Überzeugung, einen sehr eigenen Arbeitsstil mit eigener Bildsprache und erweiterten Techniken, einschließlich der Fotografie, der Videokunst und sozialer Aktivitäten, zu entwickeln, stark gefestigt. Meine Arbeit umfasst die Erschaffung von Identität und kultureller Vielfalt auf eine allgemeine Weise, wenn auch oft betrachtet durch ein Prisma von den im Mittelmeerraum üblichen Einwanderungserlebnissen. Durch die Fotografie und Videografie versuche ich soziale Wirklichkeiten mittels einer Bildsprache auszudrücken, die ihrerseits erzählerische Dokumentationstiefe mit ästhetischer Sensibilität des Fine-Art verbindet.

Thomas Gauck: Als ich mich auf eine Reise nach Marrakech vorbereitete, entdeckte ich deine Arbeit CROSSINGS – die aktuell im Marrakech Museum of Photography and Visual Arts ausgestellt wird. CROSSINGS ist eine knapp siebenminütige Video-Installation, die als Teil der Biennale auch in Paris und in Deutschland ausgestellt wird. Ein markantes Merkmal deiner Arbeit ist, dass du Migranten aus Schwarzafrika eine eigene Stimme und Gesicht verleihst, ihnen jenseits der üblichen nüchternen Statistiken eine eigene Identität gibst; du lässt sie von ihren Erfahrungen, von ihrem Leid während ihrer Flucht durch die Sahara, auf dem Meer oder in Wäldern berichten, von der wenigen Hoffnung die ihnen auf etwas Gegenwart oder einen kleinen Teil Zukunft bleibt. Für uns Mitteleuropäer eine komplett unkomfortable und beeindruckende Sichtweise. Wie hast du es geschafft den Kontakt zu Flüchtlingen aufzubauen und ihr Vertrauen zu gewinnen – wie können wir uns deine Zusammenarbeit mit ihnen vorstellen?

Leila Alaoui: Die Video-Installation ‚Crossings‘ die die Reise von Schwarzafrikanern beginnend von ihrer Heimat nach Marokko beschreibt, ist das Ergebnis einer 4-monatigen intensiven Beschäftigung mit dem Thema – in der Form eines teilnehmenden Betrachters, als ich deren tägliches Leben in unpriviligierten Vierteln in Marokko begleitete. Mir wurde erst durch die Hilfe von lokalen Aktivisten, die bereits mit Migranten arbeiteten, der Zugang zu Ihrer Gemeinschaft gestattet. Gerade zu Beginn war es sehr schwer, weil die Migranten befürchteten mich mit marokkanischen Beamten zu sehen. Sie hätten in diesem Fall einfach gefangengenommen und deportiert werden können, dazu reicht es, wenn sie mit Journalisten oder Fotografen sprechen. Ich denke, sehr langsam gewann ich deren Vertrauen, weil ich nach und nach ihre Anliegen in Marokko verteidigte und weil ich Workshops mit jungen Migranten und Flüchtlingen leitete. Aber ich denke, was wirklich das Eis brach, dass ich Zeit mit ihnen verbrachte, ich mich zu Ihnen setzte, mit ihnen aß und ihren Geschichten lauschte. Ich war kein Journalist, der für ein paar Tage kam und dann wieder verschwand. Ich zeigte echtes Einfühlungsvermögen und Respekt, und das fühlten sie. Trotz der Traurigkeit in Anbetracht ihrer Situation, hatten wir fröhliche Momente zusammen. Sie wurden meine Freunde und ich habe zu vielen mit denen ich noch heute in Kontakt bin, eine starke Bindung. Wenn wir Flüchtlinge in den Nachrichten sehen, vergessen wir, dass es sich dabei um menschliche Wesen mit Stolz und Individualität handelt. Einige von ihnen hatten eine sehr gute Ausbildung, hatten aber keine andere Wahl. Sie mussten Kriegen und Leid entkommen und versuchen ihre Familien zu retten.

Thomas Gauck: Leila, hier in Deutschland erleben wir zur Zeit eine sehr kontroverse Diskussion zum Thema ‚Flüchtlinge‘, und gerade hier vermisse ich eine Annäherung an das Problem aus Perspektiven der Kunst. Umso mehr schätze ich deine Courage aus länderübergreifender Sicht. Welche Reaktionen hast du nach Veröffentlichung von CROSSINGS international erhalten, und welche Reaktionen insbesondere von Marokko, einem Land von dem man ja weiß, dass es schwarzafrikanische Flüchtlinge, z.B. in Mellila im Norden des Landes, nicht gerade mit Samthandschuhen behandelt?

Leila Alaoui: Als ich CROSSINGS einem internationalen Publikum zeigte, war die unmittelbare Reaktion, dass Migranten plötzlich als menschliche Wesen wahrgenommen wurden. Mir wurde oft gesagt, dass ich Würde und Menschlichkeit jenen zurückgab, die in Nachrichten durch bloße Statistiken und Zahlen repräsentiert wurden. Hinsichtlich der Reaktionen in Marokko: Auf Grund der Umsetzung von CROSSINGS und vieler anderer Aktivitäten und Einzelaktionen reagierte der König von Marokko und die Regierung mit der Einführung eines Legalisierungsprogrammes für viele bereits angesiedelte schwarzafrikanische Flüchtlinge in Marokko. Aber das hat das Problem langfristig nicht gelöst. Viele Flüchtlinge werden von lokalen marokkanischen Authoritäten weiterhin unterdrückt und mißhandelt. Es ist schwer Mentalität und rassistisches Verhalten von Leuten über Nacht zu verändern. Es ist umso wichtiger, dass Kampagnen gegen Rassismus langfristig etabliert werden und Mißhandlungen von Migranten ernsthaft geahnt werden.

Thomas Gauck: Leila, deine photographische Arbeit ist durchzeichnet von der Auseinandersetzung mit Migranten, von Portraits von Opfern ihrer Umstände, wie wir auch in deinem Projekt ‚No Pasara‘, das von der Europäischen Union beauftragt wurde, sehen, oder in deinem Projekt ‚Natreen‘, das entstanden ist, als du durch den Libanon gereist bist und du beeindruckende Portraits von syrischen Flüchtlingen gesammelt hast. Gegenüber einem Magazin erwähntest du mal, dass du als Fotoassistent in New York gearbeitet hast, als du dort auch Fotografie und Sozialwissenschaften studiert hast, und dort sagtest in dem gleichen Kontext, dass du Modefotografie verabscheust … hast du dich seinerzeit, als du New York verlassen hast, auf ein tieferes Verständnis der realen humanitären Probleme vor der Haustüre vorbereitet?

Leila Alaoui: Bereits seit früher Jugend war ich von aussagekräftigen Bildern begeistert. Als ich 18 Jahre alt wurde, zog ich nach New York und entwickelte ein wirklich starkes Interesse an ethnischen Minderheiten, Subkulturen und Randgruppen, die wiederum meine interdisziplinären Studien der Sozialwissenschaften und der Fotografie formten. Nach meinem Studium hatte ich die Chance mit renommierten Filmemachern und Künstlern wie Shirin Neshat und Spike Lee und anderen auch aus der Modeindustrie zusammenzuarbeiten. Ich war an der kommerziellen Welt nie interessiert, die ich immer als zu seicht empfand. Aber ich wußte, dass ich mir technische Fähigkeiten der Fotografie und des Films aneignen musste um adäquate Werkzeuge mit starker ästhetischer Wirkung zu formen. Obwohl ich in New York wirklich hart arbeitete um finanziell in einer hochgezüchteten Wettbewerbsgesellschaft zu überleben, vergaß ich nie, dass ich privilegiert war zu reisen und ich eine Ausbildung genoss. Ich fühlte immer eine gewisse Verantwortung, bewusst zu wachsen und die Welt mit bedeutungsvollen Geschichten zu bereichern.

Thomas Gauck: Machst du eigentlich auch selbst deine Post-Production? Wenn ja, welche Tools helfen dir dabei deinen Workflow zu vereinfachen?

Leila Alaoui: Ich verwende Photoshop. Aber außer Farb- und Kontrastkorrekturen mag ich meine Bilder nicht besonders zu bearbeiten. Ich möchte, dass meine Bilder real bleiben …

Thomas Gauck: Wie ist deine Sichtweise auf Fotokünstler in Deutschland, kennst du welche persönlich, welche sind dir namentlich bekannt, welche findest du interessant?

Leila Alaoui: Hier habe ich einen sehr klassischen Geschmack: Helmut Newton, Peter Lindbergh.

Thomas Gauck: Meine inzwischen obligatorische Frage an alle bisher FiD-Interviewten: Welchen Tipp gibst du jungen Fototalenten?

Leila Alaoui: Die Fotografie wurde sehr demokratisiert und heutzutage ein schönes Foto zu schaffen, wurde sehr einfach. Ich denke, die Herausforderung von heute liegt darin starke Geschichten zu erzählen, nicht nur in der Verwendung der Fotografie, sondern auch in der Videografie. Ich glaube, es ist wichtig Erfahrungen und technisches Know-how zu sammeln, sei es als Assistenz oder in der Zusammenarbeit mit anderen Fotografen. Meistens hilft es ihre Arbeit in einem breiterem theoretischen Rahmen zu verstehen, aus sozialer Sicht, aus geschichtlichen Aspekten, aus journalistischer Sicht bis hin zur gegenwärtiger Kunst.

Thomas Gauck: Vielen Dank für die Zeit, die du dir für dieses Interview genommen hast und für deine Einsicht in deine Arbeit. Ich wünsche dir weiterhin alle Kraft deine Projekte zu realisieren.

19.01.2016: Wenige Wochen nach diesem Interview starb Leila Alaoui an den Folgen schwerer Verletzungen nach einem Al-Kaida-Terrorattentat in Ouagadougou, Burkina Faso, am 18.01.2016. Dort hielt sie sich im Auftrag von Amnesty International für eine Fotoreportage auf.

Auszüge aus der Serie Natreen (© DRC/Leila Alaoui 2014):

The Moroccans, Leila Alaoui 2011-2014

No Pasara, Leila Alaoui 2008:

Crossings Video Stills (3-Channel Video Installation, 6min, 2013):